Fernab der Hauptstadt

Irakkrieg und Arbeitslosigkeit stehen nicht nur in Berlin ganz oben auf der Themenliste. Nach der Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Reformpaket am 14. März und dem Beginn des Irakkrieges eine Woche darauf, fuhren die Bundestagsmitglieder für sieben Tage heim in ihre Wahlkreise. Und kehrten mit der Einsicht zurück, dass die Menschen vor Ort zwar ähnliche Fragen stellen wie Bundespolitiker, die Antworten aber nicht selten von den offiziellen Linien abweichen.

So darf unter der Rubrik "überraschend" verbucht werden, dass das Thema "Überflugrechte für die USA" und "deutsche Awacs-Besatzungen" sowohl in der der SPD als auch bei den Grünen nicht wirklich strittig sind. Das sei "abgehakt", berichten die grünen Parlamentarierinnen Silke Stokar (Hannover) und Anja Hajduk (Hamburg) übereinstimmend. Gerade die jungen Grünen wollten keine zusätzliche Belastung der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Die Sorge gelte der Zukunft von EU, NATO und UN. Wie die grünen Parteimitglieder unterstützt die SPD-Basis den Anti-Kriegskurs der Bundesregierung einhellig. Auch in Heimersdorf und Lindweiler steht die Frage nach der Weltordnung von Morgen im Mittelpunkt, berichtet der Kölner SPD-Abgeordnete Rolf Mützenich. Hinzu komme eine wachsende Sorge um die innere Sicherheit. Kritik an Berlin? In dieser Frage kaum.

Weniger Unterstützung erfährt die Union mit ihrem Irakkurs. Die Haltung der Regierung in der Irak-Frage werde akzeptiert, die Äußerungen von CDU-Chefin Angela Merkel hingegen als "zu anbiedernd" an die USA empfunden, schildert der baden-württembergische FDP-Abgeordnete Harald Leibrecht die Stimmung daheim. Ähnliches berichtet Ulrich Petzold (CDU): In Sachsen-Anhalt hätten sich die Parteimitglieder "mehr Fingerspitzengefühl" ihrer Vorsitzenden in der Irakfrage gewünscht. Es sei - irrtümlich - der Eindruck entstanden, Merkel sei "für den Krieg".

Auch in der Debatte der Sozial-und Arbeitsmarktreformen liegen zwischen den Vorstellungen der Bundesparteien und den ostdeutschen Unionsanhängern Welten. "Wenn die Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau abgesenkt wird, dann bedeutet das einen Kaufkraftverlust von 1,2 Milliarden Euro in Sachsen-Anhalt", sagt Petzold. Die Mittelstandsvereinigung Ost rechnet für diesen Fall damit, dass jeder fünfte kleine oder mittelständische Betrieb dicht machen müsse. Beinahe gewerkschaftsnah argumentiert die Ost-Union daher für den Erhalt der Kaufkraft, sprich der Sozialleistungen in bisheriger Höhe.

So stößt die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber nach einer Senkung der Sozialhilfe für Arbeitsfähige um einViertel auf Unverständnis. Petzold: "Die Situation in Bayern und Sachsen-Anhalt ist nun einmal nicht miteinander vergleichbar." Von Rot-Grün erhofft man sich gleichwohl nicht viel. Motto: "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht." Sollte Schröder sein Programm gegen den Widerstand der Gewerkschaften doch durchsetzen, "würde die Regierungbei uns punkten".

Noch geringer sind die Erwartungen der FDP-Mitglieder. Schröder springe mit seinem Ziel, die Sozialausgaben unter 40 Prozent zu drücken, entschieden zu kurz, sagt Leibrecht. Gleiches gelte für die Konzepte der Union. Die Betriebe in Schwaben und Nordwürttemberg litten generell unter zu hohen Lohnkosten und überbordender Bürokratie: "Wir brauchen grundlegende Reformen."

Von ganz anderen Bedenken gegen Schröders "Agenda 2010" berichtet SPD-Mann Mützenich: Viele sähen die soziale Balance der Reformen nicht gewahrt und forderten eine gerechtere Lastenverteilung: "DieVermögenssteuer wird immer wieder ins Spiel gebracht." Die größte Sorge bezieht sich auf das Krankengeld: Die Aufgabe der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird als "Dammbruch" empfunden. Ob die Überzeugungsarbeit der Parteiführung auf vier Regionalkonferenzen erfolgreich sein wird, deren erste am 28. April in Bonn stattfindet" "Letztlich wird die Kanzlerlinie unterstützt", glaubt Mützenich.

Die grüne Basis hat - gegen den Willen der Spitze - ohnehin einen Sonderparteitag zum Thema Reformen durchgesetzt. Silke Stokar interpretiert dies als ein Ausdruck der "Reorganisation der traditionellen Parteilinken", die aber an der grundsätzlichen Zustimmung zum Koalitionskurs nichts ändern werde. Fraktionskollegin Anja Hajduk: "Wir müssen systematisch richtige Schritte wie die kürzere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes umsetzen, auch wenn sie schmerzhaft sind."

Autor: 
Von Stefan Sauer
Veröffentlicht: 
Kölner Stadt-Anzeiger, 01.04.2003
Thema: 
u.a. "Irakkurs" der Parteien; Agenda 2010